In der ersten Vertriebsschulung kommt jeder automatisch mit einem Vertriebstrichter in Berührung. Der Trichter steht symbolisch für die Konvertierung von Besuchern in zahlende Kunden. Um den Trichter zu füllen, benötigt man eine Lead Generation. Und für Lead Generation, also die Konvertierung von Besuchern in Interessenten, braucht man Traffic. Woher dieser Traffic kommt, gleicht oft einer Wissenschaft. Blogs, SEA, SEO, Newsletter, Social Media, Youtube, Outbound Calling, Messen und, und, und.
Egal ob es organisch oder anorganisch, on- oder offline ist, fast allen Traffic-Quellen ist gemeinsam, dass sie durch Plattformen organisiert werden. Vielleicht erinnern sich noch einige Leser über die bestürzten Mienen der Marketeers, als Google eine Änderung des Suchalgorithmus ankündigte. Daraufhin brach lang erarbeiteter organischer Traffic ein. Im Übrigen ist Zugang keine Eigenheit des Onlinehandels. Jeder Ladenbesitzer wird sich über Baustellen in der “Marktstraße” freuen und mit dem liebgemeinten Schild “Trotz Baustelle sind alle Geschäfte (irgendwie) zu erreichen” auf Kunden hoffen. Der Zugang zu einer besonderen Ladenstraße bei mir vor Ort ist ebenso reglementiert. Neue Ladenbesitzer werden durch die bisherigen Besitzer bestimmt. Reglementierter Kundenzugang ist in der analogen, wie auch in der digitalen Welt vorhanden.
In diesem Kontext ist die viel beschriebene GAFA-Plattformökonomie (Google / Amazon / Facebook / Apple) interessant. Sie stehen prototypisch für die neuen Mittelsmänner des Kundenzugangs. Wohingegen in der analogen Welt der Kundenzugang anderen Gesetzmäßigkeiten unterlag. Derzeit entstehen für digitale Zugänge neue Regeln.
Was ist Plattformökonomie?
Plattformen sind am einfachsten als digitale Makler zum Vorteil aller beteiligten Akteure zu verstehen. In der Theorie. Im Kern geht es der Plattform darum, den Zugang zu Konsumenten und Daten zu kontrollieren. Es kann sich hierbei um eine Suchmaschine, Social-Media-Kanäle, Predictive Maintenance zum Flottenmanagement oder ein Betriebssystem handeln. Grob kann man unterscheiden zwischen transaktionszentrierten Plattformen, wie Amazon, und datenzentrierten Plattformen, wie Android. Nach der Entstehung der GAFA-Plattformen positionieren sich derzeit neue Player in spezifischen Segmenten. Uber versucht sich an Mobilität. Lieferando an Lieferdienstleistungen, AirBnB am Reisemarkt usw. Messenger-Dienstleistungen scheinen den neuen Großangriff auf den persönlichen, privaten Kundenzugang zu planen. Betrachtet man die aktuellen Zahlen, könnten sie bald Social Networks ablösen. Das bedeutet, dass für unterschiedliche Industrien und Services neue Portale (=Zugänge) entstehen.
Eine aktuelle Untersuchungüber die Entwicklung verschiedener Messenger Applications spricht eine deutliche Sprache. Sie wuchsen im Schnitt mit 44% an, im Vergleich zum durchschnittlichen Wachstum von 11%. Viel interessanter ist die MAU-Entwicklung (Monthly Active User), die in der oberen Grafik dargestellt ist.
Im Kern der Plattform steht immer der Algorithmus und stellt sein zentrales Asset dar. Plattformnutzer versuchen, diesen zu verstehen und für sich auszunutzen. Ein schönes Beispiel hierfür sind die Amazongutscheine im Wert von 1,50 € für 1,49 € oder auch Search Engine Optimization bei Google.
Welche Effekte begünstigen die Monopolisierung von Plattformen?
Plattformen tendieren dazu, in ihrer Sparte zu Monopolen zu werden. Bei einer nicht ausreichend starken Differenzierung wird früher oder später eine Plattform die andere ablösen. Prominentes Beispiel in Deutschland ist StudiVZ. Innerhalb der Plattformökonomie wirken drei Effekte, die zur Monopolbildung beitragen.
Der Netzwerkeffekt. Mit jedem weiteren Mitglied im Netzwerk steigt der Nutzen des Netzwerks für alle Teilnehmer. Wenn beispielsweise alle Bekannten von mir WhatsApp für die Kommunikation nutzen, dann steigt mein Anreiz, ebenfalls WhatsApp zu nutzen. Damit gehen entstehende Ökosysteme im Umfeld einer Plattform einher, die den Wert erhöhen. Zu nennen sind bspw. Applications im Android-Betriebssystem oder Amazon Prime.
Der Skaleneffekt.Digitale Produkte sind für die Skalierung prädestiniert. Mit jedem weiteren Nutzer des Produkts steigen die Kosten für den Hersteller nur marginal, während die Marge gleich bleibt. Dies begünstigt unbegrenztes Wachstum auf der Plattform.
Die Datenökonomie.Durch die Vorteile der Personalisierung siegt die Plattform mit den meisten Daten über seine Nutzer. Je mehr Nutzer eine Plattform hat, desto mehr Daten haben sie.
Was sind die Regeln der Plattformökonomie?
Innerhalb der Plattformökonomie haben sich bisher einige neue Regeln entpuppt. Im Unterschied zu traditionellen Geschäftsmodellen scheinen sich digitale Modelle innerhalb einer Plattformökonomie anders zu verhalten. Die dargestellten Regeln sind nur ein Ausschnitt.
Plattformvermieter und -mieter. Die Welt teilt sich in einen Plattformanbieter und viele Plattformnutzer auf. Theoretisch bündeln Plattformen den gesamten Zugang zu einer Kundengruppe. Ohne Rücksicht auf geografische, kulturelle oder zeitliche Grenzen. Unternehmen, die diesen Zugang nutzen, erhalten sofortigen Zugriff auf die gesamte Kundenmasse und können dadurch Hyperskalieren. Unternehmen, die diesen Zugang nicht nutzen, können ebenso einen hohen Anteil verlieren. Beispiele hierfür sind Google oder Amazon. Da Kunden zunehmend nur noch diese Kanäle verwenden, haben es Unternehmen schwer, die diese Kanäle nicht bedienen. Andererseits wird die Customer Journey eines Kunden immer diversifizierter und hängt inzwischen von einer Vielzahl von Plattformen ab. Nach Untersuchungen von IBI Research beginnen derzeit 34% der Kunden die Produktsuche direkt bei Amazon, 19% in einem stationären Geschäft, 15% bei Google und 12% irgendwo anders. Laut einer Studie von Price Waterhouse Coopers waren es 2017 bereits 45%.
Monopolisierung. Plattformen neigen dazu, den Zugang zu monopolisieren und andere Plattformen zu verdrängen. Ein schönes Beispiel hierfür ist der mit hohem Marketingbudget geführte Kampf von takeaway.com gegen Delivery Hero. Hier sind die Einzelheiten nachzulesen. Auf der anderen Seite ermöglichen Monopole ebenfalls kleinsten Nischenanbietern einen Kundenzugang, zumindest theoretisch. Steigt die Anzahl an Anbietern, wird es automatisch zur Ausdifferenzierung kommen. Durch den begrenzten Platz an der “Sonne” – also bspw. den ersten 5 Seiten auf Amazon – werden die prominentesten Anbieter begünstigt und Nischenanbieter benachteiligt.
Ökosysteme entstehen.Plattformanbieter versuchen, mit Services Kunden zu gewinnen und zu binden. Amazons Convenience-Haltung ist ein Beispiel hierfür. Diese Services sind darauf ausgelegt, die Wechselkosten zu anderen Plattformen zu erhöhen und Daten zu erheben. Beispiele hierfür sind App Stores, Betriebssysteme oder Prime. Im Kern stehen aber immer Convenience und Mehrwert der gesamten Plattform.
Gefahren durch die Plattformökonomie für Unternehmen
Ein schönes Beispiel, welche negativen Konsequenzen aus der Plattformökonomie entspringen können, zeigt das Beispiel des Lifestyle Magazines “Little Things”. Das Magazin hatte sich vollständig auf Social Media gestützt, um mit Feel-Good-Artikeln und Bildern Traffic zu erzeugen. Traffic bedeutete für Little Things Werbeumsatz. Nach der Änderung des Facebook-Algorithmus auf “Freunde und Familie” ist ihr Traffic um 75% zusammengebrochen. Damit sind die Werbeeinnahmen stark zurückgegangen und am Ende ist die Firma insolvent gewesen. Die gesamte Geschichte lässt sich hier nachlesen. Auf dem Höhepunkt erhielt das Magazin bis zu 40 Millionen Webseitenbesucher pro Monat. Damit einhergeht eine Erkenntnis: Social Media Traffic ist volatil. Der Algorithmus kann ein Portal in die Höhe katapultieren und es auch wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden lassen. Es braucht eine diversifizierte Strategie, um Traffic aus möglichst vielen Quellen zu beziehen.
Eine interessante Anekdote am Rande hierzu ist der Einfluss von Influencern. Ein Großteil des erzeugten Traffics basiert nicht auf intrinsischem Interesse, sondern durch andere Instinkte, wie beispielsweise optische Reize. Achten Sie daher nicht auf sogenannte “Vanity”-Statistiken, sondern lieber auf Interaktionsraten. Diese zeigen verlässlicher an, ob ein Influencer wirklich eine Zielgruppe beeinflusst.
Ein weiteres Beispiel zum Thema Plattformabhängigkeit zeigt der e-Tailment Artikel über den Schritt eines Unternehmens von einem Amazon Seller zu einem Amazon Vendor. Mit dem Schritt einher ging eine hohe Abhängigkeit von Amazon, die sich stark auf die Unternehmensprozesse ausgewirkt hat. Die einen oder anderen Leser haben sicherlich auch schon Berichte verfolgt, dass besonders erfolgreiche Produktgruppen von Händlern durch Amazons Eigenmarken kopiert wurden.
Erleben wir eine Demokratisierung des Kundenzugangs?
In der analogen Welt wurde der Kundenzugang am ehesten durch die Kosten der Entfernung determiniert. Mit der zunehmenden Globalisierung und Digitalisierung verschwanden diese Kosten. In der digitalen Welt beherrschte als erstes Google den Zugang zum Kunden. Ohne Indexierung in der Suchmaschine war es nicht möglich, in der digitalen Welt gefunden zu werden und an ihr teilzuhaben.
In den Medien vielbeachtet ist das “Klagen” stationärer Händler über das Aussterben der Einzelhändler aufgrund der Marktmacht von Amazon. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass Einzelhändler damals über Einkaufszentren ebenso geklagt haben, als Tante-Emma-Läden verschwanden und Einkaufszentren entstanden. Digitaler Handel ist nur die Weiterentwicklung des Handels als solches. Am Ende entscheidet das Angebot an den Kunden. In seiner nächsten Stufe nur plattformorientiert. Ein Boykott der Plattformen wurde oft wieder aufgegeben. Prägnante Beispiele sind Birkenstock und Apple. Viele Dritthändler sahen die Abstinenz von Amazon als Chance und nutzten die Lücke aus. Inzwischen haben beide Unternehmen Kooperationen mit Amazon gestartet.
Ich gehe von einer Demokratisierung des Kundenzugangs aus, weil derzeit mehr und mehr Plattformen entstehen, die einen Zugang ermöglichen. Zwar stehen diese miteinander (noch) nicht im Wettbewerb, aber sie diversifizieren. Darüber hinaus haben wir weiterhin die analogen Zugänge. Nominal gesehen haben wir so viele Zugänge wie nie zuvor. Wir haben unterschiedlichste soziale Medien, spezialisierte Branchenportale, Vergleichsmaschinen, allgemeine Handelsplattformen usw. Dies senkt zwar die Abhängigkeit, aber man sollte nie vergessen, dass man von heute auf morgen weg sein kann. Hierzu kann man die Mails und Beschwerdebriefe von Amazon-Händlern in Foren und Social-Media-Gruppen studieren, deren Zugang von heute auf morgen gesperrt wurde.
Auf der anderen Seite besitzen Plattformen einen autokratisch anmutenden Einfluss. Änderungen des Filters, der Algorithmen oder gesteuerte Eingriffe können Geschäftsmodelle bedrohen. Vor diesem Hintergrund erscheinen Marken erstrebenswerter denn je. Sie bieten einen Schutz vor Algorithmen und Filter. Ein weiterer Grund für Marken sind die immer spitzer werdenden Kundenzugänge. Zu Desktop-Zeiten waren vielleicht 25 Wettbewerber. Im Vergleich, bei Mobile sind es vielleicht noch 5, bei Voice vielleicht gar keiner mehr.
Was sollte man als Unternehmen machen?
Gab es früher nur die Marktstraße, den gedruckten Katalog und das Telefonbuch, kommen heute Plattformen wie Google, Social Media und Marktplätze hinzu. Händlern sei empfohlen, diese zu nutzen. Am Ende zählen Convenience und Mehrwert. Gerade hier ist das Bild von Plattformen divers. In spezifischen Bereichen ist deren Convenience enorm hoch, bestes Beispiel hierfür ist Amazon. Fokussiert man allerdings produktspezifische Bereiche und Eigenheiten, sieht dies anders aus. Ein Einfallstor für Eigenlösungen und Eigenmarken. Gerade Eigenmarken lassen sich mit Amazon hervorragend testen.
Momentan entstehen viele Plattformen für spezifische Industrien und Branchen. Das ist spannend. Es offenbart, dass nicht jede Plattform die Kunden- bzw. Produktanforderungengleichermaßen abdecken kann. Amazon hat sich bisher für Produkte mit geringer Konfigurationstiefe und geringem Erklärungsbedarf stark empfohlen – unkomplizierte Produkte. Eine Energiesanierung z. B. lässt sich über Amazon derzeit wohl schwer abwickeln, aber dafür gibt es ja inzwischen auch eine Plattform: Energieheld.
Unter dem Pseudonym Marian Haller analysiert unser Gastautor vor allem Shopsysteme und –technologien. Dies ist auch sein berufliches Hauptbetätigungsfeld im E-Commerce. Er gilt als ausgesprochener Experte auf diesem Gebiet.
Hier gibt es alle Beiträge von Marian Haller zum Nachlesen. |
Bildquelle: Nosyrevy @ bigstockphoto
Lennart A. Paul meint
Hallo Marian,
ich glaube sehr stark daran, dass es in der Plattformökomomie nicht zu einer Demokratisierung, sondern einer Monopolisierung des Kundenzugangs kommt. Plattform im Handels-/Geschäfts-/Wertschöpfungskontext bedeutet vereinfacht gesagt, a) Angebot und Nachfrage zu konsolidieren und b) Teile der Wertschöpfung zu vertikalisieren. Amazon ist in vielen Belangen das beste Beispiel dafür. Für a) strebt, meines Erachtens nach, jede Plattform nach dem Monopol.
Viele Grüße
Lennart
Marian Haller meint
Hallo Lennart,
Plattformen innerhalb von Vertikals werden sich monopolisieren. Das denke ich auch. Die Frage ist allerdings über Plattformen über Vertikals hinaus sich monopolisieren oder ob sie sich ausreichend differenzieren können. Aktuell ploppen ja hunderte Plattformen aus dem Boden, viele werden sich davon konsolidieren. Spannend ist für mich die Entwicklung zwischen Amazon, Ebay und Alibaba.
Betrachtet man die Entwicklung der Customer Journey, so wird sie immer vielschichtiger und komplexer. Das ist für mich ein zentraler Hinweis für die Demokratisierung. Klar, Produkte werden inzwischen auch auf Amazon direkt gesucht, aber Facebook, Instagram, Messenger usw. stellen neue Zugangspunkte dar.
LGMH