Amazons Anspruch auf das breiteste Sortiment am Markt könnte auf Dauer zum Untergang des Branchenriesen führen, konstatierte Retail-Experte Holger Schneider kürzlich in einem Gastbeitrag auf etailment. Die schlechten Filtermöglichkeiten und vielen minderwertigen Produkte machten dem Kunden das Auffinden der passenden Produkte unnötig schwer. Wir haben unter Marktexperten nachgefragt – und sehr unterschiedliche Meinungen zum Thema „Amazondämmerung“ gehört.
Amazon beherrscht den deutschen E-Commerce in beispielloser Weise, das bestätigen Branchenerhebungen und Studien immer wieder. Zuletzt konstatierte das IFH Köln, dass Amazon direkt oder indirekt über ein Drittel aller Non-Food-Käufe in Deutschland beeinflusst – online wie offline. Angesichts dieser Übermacht ist es vielleicht kein Wunder, dass es unter Branchenexperten aktuell etwas en vogue ist den Untergang des Riesen zu prophezeien. Aber anders als diese oft reichlich substanz- und beweislosen Unkereien hat Holger Schneider, Gründungspartner der Digitalisierungsagentur digitice.io und gemeinsam mit Alexander Graf Autor von „Das E-Commerce-Buch“, in einem spannenden Gastartikel auf etailment sich vom hohen Beraterross herunterbegeben und die Kunden-Perspektive eingenommen.
Herausgekommen ist dabei eine beachtenswerte Analyse von den vielen kleinen und großen Irritationen, die Amazon-Kunden mittlerweile hinnehmen müssen, wenn sie beim Branchenprimus einkaufen wollen: eine schier unüberblickbare Auswahl, minderwertige Produkte, gekaufte Bewertungen, schlechte Filtermöglichkeiten und eine reichlich überforderte Recommendation Engine. Amazon, so das Fazit des Retail-Experten, sei auf dem besten Wege, an seiner eigenen Größe zu ersticken: „Jedes neu gelistete Produkt trägt immer weniger zum Kundenerlebnis bei oder verschlechtert dieses sogar“, schreibt Schneider.
Das Sortimentswachstum, dass Schneider hier als Grundlage des Problems kennzeichnet, hat AMALYZE auf seiner Hauskonferenz in Zahlen gefasst: Bis zum 31. Oktober waren 586 Millionen Produkt-ASINs allein auf Amazon.de zu finden, gab AMALYZE-Gründer Michael Gabrielides bekannt.

Seit Februar 2019 steigt laut Gabrielides die Zahl der gelisteten ASINs auf allen fünf europäischen Plattformen kräftig an. Allein im Oktober 2019 entdeckte AMALYZE auf den fünf Marktplätzen insgesamt 131 Millionen neue ASINs.
Eine so große und lebendige Produktauswahl klingt auf den ersten Blick erst mal gut. Nimmt man aber wie Schneider die Kundenperspektive ein, sieht diese Auswahl konkret so aus: Über 100.000 Suchergebnisse für das Keyword „Trinkflasche“. Über 30.000 gelistete Wasserhähne. Über 70.000 Haargummis. Das wäre in sich kein Problem, doch Amazon lässt den Kunden bei der Suche nach der für ihn besten Trinkflasche recht allein, meint Schneider:
„Selbst wenn man in die kleinsten Filterebenen springt, gibt es immer noch eine übergroße Auswahl, die zunehmend aussagelos ist. Aus der Menge der Ergebnisse stechen die relevanten Produkte nicht mehr hervor: Mutmaßliche Fake-Bewertungen und Gefälligkeitsurteile helfen nur begrenzt. In Folge kommt es zur „Qual der Wahl“: User können sich nicht entscheiden, welches das beste bzw. relevanteste Produkt ist; zudem steigt die Unsicherheit, sich möglicherweise für das falsche Produkt zu entscheiden.“
Diese Qual der Wahl könnte den Kunden auf Dauer das Amazon-Erlebnis verleiden; schon jetzt deuten Studien daraufhin, dass sich die junge Generation von Amazon abwendet.
Einladung zur Branchendiskussion – Amazondämmerung ante Portas?
Was ist also dran an der Amazondämmerung? Könnte ausgerechnet die größte Stärke des Konzern – nämlich alles verfügbar zu machen und damit jeden möglichen Kundenwunsch erfüllen zu können – zu seiner größten Schwäche werden? Wir haben unter bekannten Branchenexperten nachgefragt und interessante – und sehr unterschiedliche Antworten erhalten.
Jochen Krisch, Betreiber von Exciting Commerce und Ausrichter der K5

„Ja, Amazon hat ein Qualitätsproblem und damit zunehmend auch ein Akzeptanzproblem. Die Ursache liegt aber weniger an der Flut der Produkte als an der User Experience. Ein Empfehlungsalgorithmus, der bei Büchern einmal hervorragend funktioniert hat, steigt bei kategorieübergreifenden Empfehlungen aus. Suche und Filter funktionieren nicht so, dass sie relevante Ergebnisse liefern. Und irrelevante und irreführende Anzeigen und Angebote führen zu noch mehr Ablenkung. Solange es aber für Online-Shopper keine besseren Alternativen gibt, muss man sich um Amazon keine Sorgen machen.
Das Problem von Amazon ist, dass es alles für alle sein will. Das führt im besten Fall zu mittelprächtigen Ergebnissen. Doch Handel lebt von Spezialisierung. Und besonders Plattformanbieter müssen durch eine einzigartige Experience punkten. Doch gerade der Online-Markt bietet ja weiter reichlich Raum für eine Vielzahl von Amazon-Alternativen – für Spezialisten ebenso wie für Universalanbieter (Marktplätze und Plattformen). Wie schnell man an Relevanz verlieren kann, hat in den letzten 10 Jahren Ebay gezeigt.“
Gerrit Heinemann, Leiter des eWeb Research Center an der Hochschule Niederrhein

„Ich teile die Meinung von Holger Schneider überhaupt nicht und kann nur auf die Amazon Zahlen verweisen, die für das Marktplatz- und Handelsgeschäft das Gegenteil zeigen.
Vor allem die erfolgreiche Positionierung von Amazon als Produktsuchmaschine erfordert, alle nur denkbaren Produkte zur Auswahl zu haben! Die Empfehlung von Herrn Schneider an Amazon wäre in etwa vergleichbar mit einer Forderung an Google, die Anzahl der einzugebenden Begriffe zu limitieren. Das wäre doch absurd!
Vor allem in Kombination mit Prime hat die gigantische Auswahl den Amazon-Commerce begründet, wonach die Prime-Kunden alles bei Amazon kaufen und auch schon nicht mehr woanders nach Produkten suchen.
Und mal ganz blutleer: Bei 300 Millionen Artikeln auf der Amazon Plattform alleine in Deutschland kommt es auf 50 Millionen mehr oder weniger doch auch nicht an! Demnach hätte Amazon schon vor Jahren ersticken müssen und vor allem auch Taobao von Alibaba, wo die Auswahl mindestens doppelt wenn nicht dreimal so groß sein dürfte.“
Alexander Graf, Alexander Graf, Betreiber von Kassenzone.de, Gründer der E-Commerce-Beratung eTribes, Geschäftsführer von Spryker Systems

„Aus meiner Sicht nennt Holger Schneider die Fakten. Aktuell schafft es Amazon nicht das Sortiment sauber zu halten. Fake Reviews und Fake Produkte in allen Kategorien sind Alltag. Amazon opfert sicherlich nicht absichtlich die User Expierience zu Gunsten eines riesigen Sortiments, aber man sieht hier gut, dass auch Amazons technische Möglichkeiten irgendwann limitiert sind. Kunden möchten 100% Verlässlichkeit (Produkte, Lieferung..). Das ist subjektiv auf Amazon weniger gegeben.“
Christian Otto Kelm, Amazon Marketing-Guru bei AMALYZE

„Ich sehe das wie Holger Schneider. Meiner Ansicht nach überdreht Amazon derzeit ganz klar das FlyWheel. Das riesige Sortiment wird von der Lösung zum Problem.“
Felix Gassmann, Geschäftsführer Avantrado GmbH, Amazon-Experte

„Es ist aktuell sehr hip, den Untergang Amazons zu prophezeien. Ich sehe das anders. Es ist nach wie vor so, dass eine große Auswahl, attraktive Preise und eine schnelle Lieferung den Kunden wichtig sind. Ich bin der festen Überzeugung, dass die große Auswahl nach wie vor das Hauptargument pro Amazon ist.
Die Attraktivität wird noch weiter steigen wenn die Marktdurchdringung und Anwendung von Voice zum Shoppen noch besser geworden ist. Der Desktop-Marktplatz, der von vielen oftmals bemängelt wird, ist ja nur ein Teil des Gesamtportfolios der schon einen sehr fortgeschrittenen Status der Evolution hat. Das Thema Mobile beherrscht Amazon schon sehr gut und Voice noch besser. Zudem kommen noch spannende Themen wie Shopping in Fire TV.
Die Kritiker sehen oftmals nur ein Teil des Amazon Imperiums. Alleine durch den Logistikvorsprung hat Amazon eine Infrastruktur, die schwer zu kopieren ist und sicher auch noch lange Bestand hat. Die anderen Parameter sind schnell und flexibel anpassbar. Suchergebnisse, Filter und Sortimentsdarstellung sind nur „Peanuts“ an denen schnell was angepasst werden kann.
Meiner Meinung nach ist es eher spannend, ob Amazon diese Sortimentsbreite mit den steigenden monetären Forderungen an die Marktteilnehmer halten kann oder ob hier nicht mehr und mehr Marken auf den Nike/Birkenstock Zug aufspringen und dadurch die Attraktivität verloren geht.“
Wie sehen Sie Amazons Zukunft? Diskutieren Sie mit in der Kommentarspalte!
Bildquelle: Sylvesterarts/bigstockphotos
Gisela Schmidt meint
Ich möchte zu diesem Problem auch einmal als Kunde (mit entsprechendem beruflichen Hintergrund) sprechen.
Für mich ist es inzw. nicht mehr hinnehmbar was mir Amazon als Suchergebnis serviert. Völlig irrelevante Artikel bei konkreter Suche. Noch nicht einmal wenn man konkret nach einer Marke sucht bekommt man ein sortenreines Ergebnis. So etwas hat mich massiv verärgert. Normale Einkäufe mache ich bei Amazon nicht mehr. Ich beschränke mich fast ausnahmslos auf das Film- und Buchangebot. Onlineshoppen sollte ja ursprünglich einmal das Einkaufen leichter und bequemer machen. Bei Amazon ist es beides nicht mehr. Ebenfalls ist Amazon selbst als Versender einfach langsam. Die zugesicherte Lieferzeit wird nur mit ‚Gut Glück‘ eingehalten. Bei Marketplace Händlern ist nich sofort erkennbar woher sie kommen. Bestellt man versehentlich bei einem Chinahändler oder einem in die Niederlande oder die Schweiz ausgewanderten Händler, dann kann es schon mal vorkommen das man die Bestellung vergessen hat bevor man sie erhält.
Ein weiterer unerfreulicher Punkt ist, das man schon ein Suchfuchs sein muss wenn man einmal Kontakt und Hilfe von Amazon braucht. Das spricht auch nicht gerade für Kundenfreundlichkeit. Alles in Allem – wenn ich massenweise Suchergebnisse von Chinahändlern mit langen Lieferzeiten und ohne Kundenservice möchte, dann bestelle ich bei Wish. Dazu brauche ich Amazon nicht. Wobei Wish ziemlich fix mit Erstattungen ist. In dem Sinne…. ich komme nicht drauf, welche Vorteile ich bei Amazon haben könnte…..
Franz meint
Ich glaube die Kunden machen sich da noch keinen Stress. Im Zweifel wird halt einfach Amazons Choice gekauft. Dass diese Artikel oft genug nur mit Schummelei (Stichwort-Fake-Bewertungen) an die Macht gekommen sind, wissen doch die wenigsten. Ärgerlicher ist im Bekanntenkreis, da schon eher die Schwemme an billigem China-Kram. Die ja aber seltsamerweise Hunderte von positiven Bewertungen haben. Ein Schelm wer Böses denkt.
Falk Steimmig meint
Herr Heinemann diskutiert wie so oft voll am Thema vorbei. Entweder er hat den Artikel nicht richtig gelesen oder, was näher liegt, einfach nicht verstanden.
„Vor allem die erfolgreiche Positionierung von Amazon als Produktsuchmaschine erfordert, alle nur denkbaren Produkte zur Auswahl zu haben! Die Empfehlung von Herrn Schneider an Amazon wäre in etwa vergleichbar mit einer Forderung an Google, die Anzahl der einzugebenden Begriffe zu limitieren. Das wäre doch absurd!“
Holger Schneider empfiehlt Amazon nicht eine Reduktion des Sortiments, sondern prangert wie Alexander Graf die mittlerweile nachweislich schlechter gewordene Kuratierung an. Er behauptet lediglich und absolut richtig: „Der Fokus muss auf die Relevanz für den Kunden gelenkt werden: Ein Mehr an Produkten sollte mit einem Weniger an Suchen einhergehen.“ Dazu müssen bessere Filtermöglichkeiten erstellt werden, die relevantere Ergebnisse auf Basis einer höheren Datenqualität ausspielen.
Des Weiteren: mit einem Verweis auf in der Vergangenheit erzielte (großartige) Geschäftsergebnisse eine fundierte Einschätzung zukünftiger Herausforderungen kategorisch abzulehnen – das wäre doch absurd!