Haben Sie schon mal etwas von StitchFix gehört? Der US-amerikanische Mode-Versender gehört aktuell zu den Newcomern der E-Commerce-Branche, die unter schärfster Beobachtung stehen. Und das nicht nur, weil das Unternehmen dieses Jahr seinen Umsatz um 34 Prozent auf 977 Millionen US-Dollar gesteigert hat und bald an die Börse will. Sondern vor allem deshalb, weil das 2014 gestartete Unternehmen seinen Erfolg ausschließlich seiner Technologie zu verdanken hat.
Kunden von Stitch Fix erhalten über einen Abo-Service monatlich hochgradig personalisierte Pakete mit Kleidungsstücken, die abgestimmt auf die Angaben und das Verhalten des Kunden sowie die Produktinformationen von einer künstlichen Intelligenz ausgewählt werden. Mit jedem weiteren Kunden und je länger das System genutzt wird, umso präziser und treffsicherer sind die Vorhersagen. Nach eigenen Angaben kaufen mehr als 80 Prozent der rund 2 Millionen Kunden innerhalb von 90 Tagen ein zweites Mal und ein Drittel gibt 50 Prozent seines gesamten Kleidungsbudgets bei Stitch Fix aus.
Damit hat Stitch Fix es geschafft, den größten Wachstums-Hemmschuh von Curated Shopping-Angeboten (nämlich den hohen Personalbedarf durch die persönliche Beratung mittels gelernter Stylisten) abzuschütteln und gleichzeitig die Kundenzufriedenheit in ungeahnte Höhen zu schrauben – und das einfach nur mit einer sehr klugen künstlichen Intelligenz.
Stitch Fix ist ein prominentes, aber keineswegs das einzige Beispiel für den Einsatz selbstlernender Algorithmen im E-Commerce. Tatsächlich wird schon eine ganze Menge an Entscheidungen von klugen Computerprogrammen gesteuert, ohne das Kunde etwas davon mitbekommt.
KI wo man (nicht) hinschaut
Real beispielsweise testete kürzlich ein System von IDA Indoor Advertising, das Gesichter der Kunden in der Kassenschlange analysiert und je nach Alter und Geschlecht passende Werbung auf einem Monitor zeigt. Zur Otto Group gehört mit collectAI eine Lösung für KI-automatisiertes Fordungsmanagement, die Ansprache und Timing der Zahlungserinnerungen an das persönliche Kundenprofil anpasst und so immer dann mahnt, wenn die Wahrscheinlichkeit auf eine Reaktion des Kunden am höchsten ist.
Der britische Business Intelligenz-Anbieter Edited.com sagt auf Basis von Verkaufsdaten aus der Vergangenheit zukünftige Mode-Trends voraus. Die Software AX Semantics schreibt Verkaufstexte für Online-Shops ohne menschliche Hilfe. Google nutzt künstliche Intelligenz, um seine Suchalgorithmen laufend zu verbessern.
In Amazons kassenlosem Supermarkt Amazon Go behalten KI-Technologien den Überblick über das Inventar und stellen Kunden automatisch die Rechnung für ihren Einkauf aus. Netflix verlässt sich so sehr auf die selbstlernende Intelligenz seiner personalisierten Film-Vorschläge, dass es sich eine klassische Filtersuche für passende Filme gleich mal ganz spart. Und das Marktforschungsinstitut Gartner sagt voraus, dass bis zum Jahr 2018 digitale Kundenberater das Gesicht und die Stimme des Einkäufers auf allen Kanälen erkennt. Bis zum Jahr 2020 sollen gar 85% der Kundeninteraktionen ohne Menschen stattfinden.
Weil Personalisierung mit künstlicher Intelligenz viel einfach geht und vor allem viel besser zu skalieren ist, investieren vor allem die großen digitalen Player Unsummen in das Thema. Insgesamt 34 KI-Start-ups haben die Tech-Titanen aus den USA im ersten Quartal laut CB Insights übernommen – mehr als doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Der Hunger nach guten KI-Technologien und sinnvollen Daten-Sammlern ist enorm, wie auch eine aktuelle Studie von Emarsys zeigt, in der über 700 Marketing-Entscheider großer europäischer Unternehmen (zwischen 50 Mio und 5 Mrd. Euro Jahresumsatz):
Damit die schöne neue KI-Welt aber wirklich Realität wird, brauchen E-Commerce-Player vor allem eines: gute Daten, die strukturiert vorliegen und – Achtung, Datenschutz! – verwendet werden dürfen. Damit die KI lernen kann, müssen zudem immer die gleichen Daten über einen längeren Zeitraum erhoben werden. Je nach Datenlage sind schließlich drei Varianten für den Einsatz von KI im E-Commerce denkbar, wie Achim Liese von netz98 zusammengefasst hat:
- Erkenntnisse über die Vergangenheit gewinnen (descriptive analytics),
- belastbare Vorhersagen treffen (predictive analytics),
- Handlungs-Empfehlungen durch die Abwägung des Resultats möglicher Handlungen geben (prescriptive analytics)
Was steht am Ende der Kette? Ein Online-Shop, der nicht nur weiß, was ein Kunde gekauft hat und was er vermutlich kaufen will – sondern ein Shopping-Angebot, das individuelle Empfehlungen zu Produkten gibt, von denen der Kunde noch gar nicht weiß, dass er sie haben will. Sollte das gelingen, steht dem Handel die nächste Revolution bevor. Google, Apple, Facebook und Co. arbeiten bereits daran.