Auf der „Trend Arena“ der Internet World Messe diskutierten die wichtigsten Marktforscher erstmals gemeinsam am runden Tisch, wie der digitale Handel treffgenau vermessen werden kann. Bei der Podiumsdiskussion ging es auch um die Frage, wie groß der deutsche E-Commerce nun wirklich ist.
Vergangenen Dienstag moderierte ich die Podiumsdiskussion ›Weg mit dem Zahlensalat‹ in der TrendArena auf der Internet World. Dabei waren die Verbandsvertreter des BEVH (Martin Groß-Albenhausen, Stellvertretender Hauptgeschäftsführer), HDE (Stephan Tromp, Hauptgeschäftsführer), EHI (Lars Hofacker, Leiter des Forschungsbereichs E-Commerce), das IFH (Dr. Kai Hudetz, Geschäftsführer) sowie Prof. Dr. Gerrit Heinemann (Leiter des eWeb Research Center an der Hochschule Niederrhein) und Jan Griesel (CEO des Shopsystem-Anbieters plentymarkets).
Marktzahlen sind Leitplanken für die Branche
Um ihre digitale Handelsstrategie verlässlich planen zu können, brauchen Unternehmen verlässliche Marktdaten. Die aktuell verfügbaren Marktzahlen weichen je nach Herausgeber jedoch mitunter deutlich voneinander ab. Die Umsatzzahlen der Verbände sind umsatzsteuerbereinigt nahezu identisch. Alles Friede, Freude, Eierkuchen also, möchte man meinen. Da aber jeder ›E-Commerce-Umsatz‹ anders definiert, kommt letztlich doch wieder immer ein ganz anderer Wert heraus.
Das alles hilft dem Händler nicht weiter, wenn er Branchenzahlen als Entscheidungshilfe nutzen möchte. In der Diskussion ging es daher einerseits darum, Transparenz in die verschiedenen Methoden zu bringen und anderseits zu erörtern, wie man mit den Herausforderungen bei der Umsatzzuordnung nach Handelskanälen besser umgehen kann. Dieses Problem wird mit zunehmender Verschmelzung der Kanäle ja nur noch größer.
Schauen wir uns einmal an, wie hoch jeder Studienherausgeber den E-Commerce-Umsatz ansetzt und wie sich die einzelnen Zahlen zusammensetzen. Da dem EHI naturgemäß die 2016er Zahlen erst spät vorliegen, haben wir auch die Zahlen des Vorjahres (2015) aufgenommen.
Wie wir sehen, sind die ersten Zeilen mit den Umsatz- und Wachstumszahlen nahezu identisch. Aber dann wird es interessant! Die einen haben Retouren bereits rausgerechnet, die anderen nicht. Wichtiger ist jedoch die Frage, welche Güter überhaupt berücksichtigt werden. Die einen bewerten E-Books und Downloads, die anderen zusätzlich noch Veranstaltungstickets, Bahnreisen und Mietwagen. Ganz andere beziehen gar nichts davon ein. Da beginnt dann das Tohuwabohu.
Aber machen wir die Verwirrung doch komplett: Der EHI hat für seine Top-1000-Händler einen Umsatz in Höhe von 35,5 Mrd. Euro ermittelt. Wenn wir für 2015 von durchschnittlichen 39,7 Mrd. ausgehen, dabei noch 10%, also 4 Mrd. Euro, für Retouren abziehen und dann die Top-1000-Umsätze subtrahieren, bleibt nichts mehr für die anderen, schätzungsweise knapp 500.000 online Handelnde in Deutschland, übrig.
Und wenn wir dann noch berücksichtigen, dass der EHI in seinen Zahlen – im Gegensatz zu manch anderem – keine digitale Güter oder Reisen und Mobilität berücksichtigt, käme bei dieser Rechnung sogar ein Minusbetrag von einigen Mrd. Euro raus.
ø E-Commerce-Umsatz 2015 | 39,7 Mrd. € |
- bei 10% Retourenquote | 3,97 Mrd € |
- Top1000-Umsätze | 35,5 Mrd. € |
= Nicht-Top1000-Umsätze | 0,23 Mrd. € |
- digitale Güter(eBooks und Downloads) | x Mrd. € |
- Event-Tickets, Reisen und Mobilität (Bahnreisen, Mietwagen etc.) | x Mrd. € |
Aber auch wenn wir das alles jetzt mal zur Seite schieben und die 4,2 Mrd. Euro (ø 39,7 Gesamt – 35,5 Top1000) Umsatz für die Nicht-Top-1000-Shops annehmen würden, kann es nicht sein.
Dazu muss man sich einfach nur die Umsätze der plentymarkets-Händler anschauen. Deren Umsätze bewegen sich typischerweise so zwischen 100 TSD und 5 Mio. Euro. Vergleichsweise sehr wenige liegen darüber und sind in den Top-1000. Dennoch haben diese 2015 knapp 3 Mrd. Euro erwirtschaftet. Also fast alles, was den Nicht-Top-1000-Shops studienseitig überhaupt zugestanden wird. Da plentymarkets jedoch nur einer von vielen Anbietern ist, wo sind dann die anderen?
Nachtrag 13.3.: Lars Hofacker vom EHI merkt via Twitter völlig zurecht an: „Die 3 Mrd. € der 6.000 plentymarkets-Händler müssten zum Top-1.000-Vergleich aber auch differenziert werden nach B2C, Inland, Güter…“ – es bleibt komplizierter.
Die Zahlen können nicht stimmen und sind vermutlich deutlich zu niedrig
Dieses kleine Rechenbeispiel offenbart zusätzlich, dass die Zahlen der Branche in sich nicht konsistent sind. Setzt man sich einmal intensiv mit dem Thema auseinander, wird man aber auch feststellen, dass es beinahe unmöglich ist, den E-Commerce-Markt einigermaßen adäquat zu vermessen. Zumindest ich habe festgestellt, je mehr man sich mit dem Thema beschäftigt, desto unlösbarer scheint das Problem. Zu viele Fragen sind noch offen. Je nach Lesart kann sich so der Online-Umsatz verdoppeln, wie Prof. Heinemann schätzt.
Ungeklärt ist bspw.:
- Welche Umsätze (Güter) sind zu berücksichtigen?
- Wie kann man die Online-Händler in Versendertypen klassifizieren oder wann ist ein Pure player überhaupt ein Pure player?
- Was ist überhaupt ein Online-Händler – hier gibt es ja das einprägsame Beispiel von Groß-Albenhausen: Ist ein Händler, der seine Ware aus China direkt importiert und ausschließlich über Amazon verkauft, ein Pure player, ein Hersteller mit Direktvertrieb oder ein Marktplatzhändler?
- Und was sind überhaupt Online-Umsätze? Was gilt bspw. bei Click & Collect oder wenn ein Online-Händler Tupperware-Partys veranstaltet oder einen Lagerverkauf? Ist das E-Commerce?
- Gleichzeitig ist das Internet ja nicht nur für Umsatzverschiebungen verantwortlich, sondern wird auch wichtigstes Medium für Recherche und Kauf im stationären Handel.
So merkte Kai Hudetz in einem Vorgespräch völlig zurecht an, dass die Grenzen so sehr verschwimmen, dass viel tiefer in die Customer Journey eingetaucht werden muss. Nicht ›wo und wie findet der Kauf statt‹ sei die eigentlich zentrale Frage, sondern ›wo und wie wird der entscheidende Kaufimpuls ausgelöst‹. Das ist natürlich ein sehr viel schwerer zu messendes Phänomen.
Stefan Tromp verglich die Customer Journey mit einem Wollknäuel. Der Konsument kümmert sich nicht um Kanäle und wechselt unkontrolliert zwischen Online und Offline hin und her, bevor er sich zum Kauf entschließt.
Die Gesprächsteilnehmer der Podiumsdiskussion waren sich einig, dass die Kanalzuordnung eines Umsatzes im Cross-Channel-Zeitalter extrem schwierig geworden ist und in Zukunft nur immer noch komplexer wird.
Ich gehe daher auch mit den Diskutanten konform, dass es künftig möglicherweise wichtiger ist auf Trendentwicklungen und einzelne Branchen zu achten, denn auf die Gesamtzahl an sich. Dessen Ermittlung scheint beinahe unmöglich.
Auch im Nachgang zur Gesprächsrunde wurde unter den Teilnehmern noch intensiv diskutiert, wie sich diese Herausforderungen, möglicherweise sogar gemeinsam, bewältigen lassen. Auch mein Einwurf in die Runde, warum bei den Datenerhebungen keine Praxiszahlen berücksichtigt würden, schließlich stünden diese ja zur Verfügung, fand Nachhall.
Es scheint also so, als hätte die Diskussion etwas angestoßen. Wünschenswert aus meiner Sicht wäre, wenn sich dieser Austausch nun regelmäßig wiederholen ließe. Bspw. in Form eines runden Tisches, gerne wieder von der IWB organisiert.
Eine weitere gute Zusammenfassung zur Podiumsdiskussion gibt es bei Internet World selbst: http://www.internetworld.de/e-commerce/internet-world-messe/dringend-gesucht-verlaessliche-zahlen-e-commerce-1202562.html