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Vor- und Nachteile von Shop-Eigenentwicklungen und Standardlösungen – eine ausführliche Analyse

Ein zentraler Glaubenspfeiler in der Erfolgsforschung von Organisationen ist die Annahme, dass einzigartige Unternehmen sich am Markt besser durchsetzen können. Einzigartigkeit lässt sich über Unique Selling Points (USP) ausdrücken. Durch die fortschreitende Digitalisierung unserer Gesellschaft finden USP auch im digitalen Ökosystem ihren Ausdruck. Damit stellt sich die Frage nach einer leistungsfähigen E-Commerce-Software, um diese zu erlangen und die Grundüberlegung „Make or Buy“ beginnt.

Ich möchte in diesem Artikel der Frage nachgehen, ob Unternehmen digitale Alleinstellungsmerkmale eher mit Eigenentwicklungen oder mit Standardsoftware erreichen und was die Konsequenzen daraus sind, wenn man sich für den einen oder anderen Weg entscheidet.

Aufgrund des Umfangs werde ich das Thema in einer zweiteiligen Serie aufarbeiten. Im ersten Teil gehe ich der Frage nach, warum digitale USP notwendig werden und setze mich mit den Vor- und Nachteilen von selbst entwickelten Systemen auseinander. Im zweiten Serienteil befasse ich mich mit Standardsoftware und diskutiere die Probleme, die mit der Wahl dieses Weges entstehen können. Ebenso erörtere ich, wie durch API Standardsoftware einzigartig werden kann.

Teil 1 – Branchenführern auf der Spur – Mit Frameworks einzigartige USP kreieren

Wie können digitale USP von Unternehmen erreicht werden? Eigenentwicklungen basieren fast immer auf der Verwendung von Frameworks und diese behaupten von sich, flexibel und agil zu sein. Standardlösungen sind verschrien als starre Monolithen. Frameworks passen sich nahtlos an das Geschäftsmodell an und Monolithen erzwingen eine Anpassung des Geschäftsmodells. Es scheint im ersten Augenblick klar, dass eine digitale Alleinstellung mit einem Monolithen ungleich schwerer zu erlangen ist.

Obwohl ein Unterschied zwischen Framework und Eigenentwicklung besteht, benutze ich beide Begriffe simultan. Ein wichtiger Punkt, der von außen schwer zu bewerten ist, betrifft die Qualität und Reife der Lösung. Das trifft gleichermaßen auf Frameworks wie Standardsoftware zu.

Beispiele für Softwarehersteller, die sich eher dem Framework zuordnen lassen, sind CommerceTools, Spryker und Sylius. Wohingegen Hybris Demandware und Magento eher Standardsoftware sind. In beiden Kategorien gibt es Open Source Code- und Closed Source Code-Varianten.

Die digitale Ära und digitale USP

Von 2010 bis 2014 ist der Umsatz für Smartphones um 400% gestiegen. Google hat im März 2018 die Mobile First-Ära verkündet. Dadurch werden mobile Zugangspunkte vom Suchindex bevorzugt. Die Produktsuche erfolgt inzwischen signifikant auf Amazon. Das Internet of Things macht unsere Umwelt intelligent. All dies ist Ausdruck einer starken digitalen Ära. Kennzeichen dieser ist ein schneller Innovationszyklus und eine Veränderung in der Gesellschaft.

Die Customer Journey ändert sich, die Interaktionspunkte der Kunden mit dem Unternehmen nehmen zu und neue Technologien verändern unsere Umwelt. Organisationen müssen flexibler und agiler werden und sie müssen digitale Technologien integrieren, um an dieser Entwicklung zu partizipieren.

Digitale Technologien werden dabei Teil der Prozesslandschaft von Unternehmen. Pure Player beherrschen dies bereits meisterhaft. Ein schönes Beispiel ist die Glas API von Mr. Spex, mit der Kunden live eine Brille zu Hause anprobieren können, oder die Augmented Reality Application von IKEA, mit der Möbel in der eigenen Wohnung platziert werden.

Die Integration solcher Anwendungen bietet ein Alleinstellungsmerkmal. Jedoch muss man sich hierbei auch die Frage stellen, wie nachhaltig diese USP sind. Digitale Technologien sind kopierbar.

Was ist ein Framework und worin bestehen seine Vorteile?

Ein Framework ist eine Programmbibliothek mit vielen Vorlagen zur Entwicklung einer Software. Am ehesten lässt es sich in der Metapher eines Werkzeugkastens verstehen. Entwickler programmieren auf Basis dieser Vorlagen ein E-Commerce-System nach den genauen Vorgaben aus dem Geschäftsmodell. Spezifische Wünsche können meist problemlos integriert werden.

Der große Vorteil eines Frameworks ist die absolute Flexibilität in der Gestaltung der Funktionalitäten und Prozesse. Sie können eine Software erschaffen, die perfekt Ihrem Geschäftsmodell entspricht. Mit einem Framework sind Sie darüber hinaus von Dritten weitestgehend unabhängig, sofern Sie eine Open Source Code-Variante nutzen. Sie müssen keine Angst haben, dass der Hersteller aufgekauft oder insolvent wird.

Ebenso sind Sie nicht von der strategischen Produktausrichtung abhängig oder von bestimmten Kooperationen. Sie entwickeln nur Features, die Sie brauchen, und beugen damit einem Feature Bloat vor. Darüber hinaus sind Sie vor Preis- oder Lizenzmodellanpassungen sicher. Gerade SAP-Kunden können aufgrund der aktuellen Probleme mit Indirect Access und Named User-Lizenzen ein Lied davon singen.

Was sind die Nachteile eines Frameworks?

Frameworks haben eine lange Time-to-Market (TTM). Die Entwicklung einer eigenen Software dauert trotz Werkzeugkasten und Blaupausen sehr lange. Es muss eine Architektur entwickelt, Datenbanken müssen integriert, Leistungstests durchgeführt werden. Ebenso muss die Performance optimiert und eine Dokumentation geschrieben werden. All das kostet seine Zeit. Es müssen Konnektoren entwickelt werden, um die Software in eine bestehende IT-Landschaft zu integrieren.

Die Eigenentwicklung einer Software lässt sehr viele Hintergrundfragen um die Architektur und Produktentwicklung entstehen, die viel Erfahrung und Expertise in der Beantwortung benötigen. Nicht umsonst können sich selbst entwickelte E-Commerce-Systeme fast nur große Unternehmen leisten, da sie über eine bestehende IT-Abteilung und langfristige finanzielle Ressourcen verfügen.

Die Total Cost of Ownership (TCO) steigt durch die lange Entwicklungszeit und den höheren Ressourcenbedarf an Entwicklern, Product Ownern und Architekten an. Bei einem kostenpflichtigen Framework kommen noch die Lizenzkosten hinzu. Den größten Einfluss auf die TCO entstehen jedoch durch langfristige Kosten. Man darf nicht vergessen, die Konstruktion einer Software ist ein eigenes Produkt.

Sie werden damit Softwarehersteller. Dadurch sind Sie ebenfalls für den Support, die Wartung und Sicherheitsaspekte verantwortlich. Die Abhängigkeit vom Hersteller bei einer Standardsoftware tauschen Sie mit der Abhängigkeit von Entwicklern ein. Softwareentwicklung ist ein Walking Asset Business. Das bedeutet, dass die Investition in Ihre Software in den Entwicklern steckt.

Architekten und Product Owner sind zentrale Wissensträger ihres Produkts und diese Ressourcen müssen im Unternehmen gehalten werden. Wenn sie gehen, kann es trotz guter Dokumentation zu hohen Folgekosten kommen.

Darüber hinaus benötigt Softwareentwicklung viel Erfahrung in der Technologie (Datenbank, Integration in eine Systemlandschaft, Architektur, Stabilität, Performance, Hosting, Deployment usw.) und Geschäftsprozessen (Funktionalitäten, User Experience etc.). Ebenso muss die Erfahrung mit dem Produkt an sich aufgebaut werden: Wo liegen Performance-Engstellen? Wie funktionieren Workarounds?

Bei einer Eigenentwicklung muss dieses Wissen erst entwickelt werden. Das erhöht indirekt die TTM und TCO. Betrachtet man noch einmal die Flexibilität, ist es leider ein Irrglaube, dass mit einem Frameworkeine flexible Software geschaffen wird. Das hängt allein von der verwendeten Technologie und Architektur ab. Verwendet man keine modularen Architekturprinzipien, wie Microservices, baut man sich seinen eigenen Monolithen. Die Software ist zwar auf das aktuelle Geschäftsmodell perfekt ausgerichtet, wenn sich jedoch das Modell ändert, ändern sich die Anforderungen an das System und sie begegnen schnell einem aufwändigen Migrationspfad.

Dies passiert oft bei der Internationalisierung, wenn unterschiedliche Funktionalitäten für verschiedene Länder eingerichtet wurden. Sobald die Migration auf eine nächsthöhere Version beginnt, tauchen Probleme auf.


Für welches Geschäftsmodell eignen sich Frameworks?

Je höher der Anteil an Funktionalitäten ist, die nicht Out-of-the-box (OOTB) von einer Standardsoftware geliefert werden können, desto eher lohnt sich eine Eigenerstellung. Bedenken Sie dabei nicht nur die kurzfristig benötigten Funktionalitäten, sondern auch ihre Anforderungen in der Zukunft. Ebenso müssen Sie die Halbwertszeit von Funktionalitäten bedenken.

Nicht jedes Feature wird morgen wieder ad acta gelegt. Standardfunktionalitäten, wie Check-out-Prozesse, Kategorien oder Artikel, werden Sie über einen sehr langen Zeitraum ohne Anpassungen behalten können. Andere Features haben eine deutlich kürzere Lebensspanne.

Ein weiteres Kriterium ist die Ausrichtung des Geschäftsmodells. Je stärker digitale Technologien integriert und im digitalen Feld aktiv sind, desto eher lohnt sich eine Eigenentwicklung. Dieses Argument wird besonders vor dem Hintergrund der strategischen Unabhängigkeit deutlich. Wenn Sie flexibel und zeitnah neue Funktionalitäten integrieren und austesten wollen, können Sie diese mit einem Framework leichter erschaffen und  integrieren, als auf die Entwicklung des Herstellers warten zu müssen. Klassische Beispiele sind Pure Player.

Zusammenfassung

Frameworks bieten den charmanten Vorteil einer hohen Flexibilität. Kurzfristig wird diese sehr schnell erreicht. Im ersten Design bildet man das aktuelle Geschäftsmodell ab. Langfristig ist diese Flexibilität ungleich schwerer zu halten. Dann wird das Framework ein eigenes Softwareprodukt, das gepflegt, migriert, weiterentwickelt und gewartet werden muss. Neben dieser Kostenposition erkauft man sich die Unabhängigkeit eines Herstellers mit wesentlich höheren TCO und TTM.

Darüber hinaus begibt man sich in Abhängigkeit von eigenem IT-Personal. Unternehmen müssen kurz-, mittel- und langfristig abschätzen können, ob Unabhängigkeit die höhere TCO rechtfertigt. Ein weiteres Feld betrifft die Performance, Stabilität und Skalierung. Die gesamte Software und alle entwickelten digitalen USP sind wertlos, wenn das zugrundeliegende System nicht die entsprechende Leistung liefert. Die Wahl des Frameworks und der zugehörigen Architektur sollte daher wohlbedacht sein.

Mit Frameworks lassen sich neue Features leicht entwickeln und bei geeigneter Architektur auch leicht integrieren. Man muss dabei jedoch beachten, dass eine Software nicht allein aus Funktionalitäten besteht. Diese sind schnell entwickelt. Nehmen Sie als Beispiele Magento oder Shopware. Einige PHP-Entwickler und etwas Zeit, schon haben Sie ein neues Feature. Dies ist allerdings nur ein Teil eines digitalen USP.

Wie eingangs erwähnt, benötigt das System Stabilität, Performance und Skalierung, ansonsten bringen Ihnen alle Funktionalitäten nichts. Diese Fähigkeiten einer Software stellen das grundsätzliche Fundament dar. Ist dieses nicht stabil, fällt früher oder später alles in sich zusammen. Dies zu entwickeln ist ungleich schwerer.

Wenn Sie in der Lage sind, all die komplexen Anforderungen einer Eigenentwicklung wirksam zu begegnen, dann können Sie mit einem Framework ein einzigartiges E-Commerce-System mit wirksamen digitalen USPs schaffen. Eine Überlegung ist es wert. Oder um es mit „The Homer“ zu sagen: Mit Frameworks können Sie Ihr System so bauen, wie Sie wollen, es sieht dann aber auch genauso aus. Das sollten Sie auch bedenken.

The Homer“ – Homer Simpson entwickelt für seinen Bruder, einen Autofabrikanten, sein eigenes Auto und führt ihn damit in den Ruin. Das Auto basiert auf Homers Idee, wie das perfekte Auto aussehen müsse. Das stellt die Frage, wann Eigenentwicklungen besser als Standardsoftware sind.

 

Unter dem Pseudonym Marian Haller analysiert unser Gastautor vor allem Shopsysteme und –technologien. Dies ist auch sein berufliches Hauptbetätigungsfeld im E-Commerce. Er gilt als ausgesprochener Experte auf diesem Gebiet.

Hier gibt es alle Beiträge von Marian Haller zum Nachlesen.

 
Bildquelle: © bigstock/Marina Mladjenovic

Bildquelle: Mauricio Sanjurjo

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