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Kritik an Amazons „Destroy“-Programm: Warum in deutschen E-Commerce-Lagern neuwertige Ware vernichtet wird

Mit einem vermeintlichen Recherche-Coup von „Frontal21“ und „Wirtschaftswoche“ rückte letzte Woche mal wieder Amazon ins Schlaglicht der breiten Öffentlichkeit. Denn, so berichtete die angemessen entsetzt-empörte Frontal21-Moderatorin Ilka Brecht, Amazon vernichtet neuwertige Retouren! Und zwar im großen Stil! Die E-Commerce-Branche beeilte sich, den vermeintlichen Skandal zum Skandälchen zurechtzurücken; schließlich gehört die Vernichtung von Retouren zum Alltag jedes Online-Händlers –  wenn es sich nicht vermeiden lässt.

Palettenweise stapeln sich in deutschen Amazon-Lagern Elektronik-Produkte, Spielwaren, Küchengeräte, Kosmetikartikel und vieles mehr, die eins gemeinsam haben: Sie werden im Rahmen des Amazon Destroy-Programms vernichtet werden. Für nicht-eingeweihte, branchenfremde Laien sind die Frontal21-Bilder, die letzte Woche über die TV-Bildschirme flackerten, durchaus verstörend, dürfte doch vielen Verbrauchern, die bisher ohne mit der Wimper zu zucken, Online-Bestellungen zurückschickten, zum ersten Mal klar geworden sein, was mit ihren Retouren passieren kann. Der Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten: Politiker und Umweltverbände äußerten sich empört, sprachen von einem „Riesenskandal“. Und wieder mal hieß es: Alle gegen Amazon.

Kein Skandal, sondern gängige Praxis

Was die Leitmedien erst nach und nach berichteten: Selbstverständlich zerstört nicht nur Amazon Retouren, sondern jeder größere E-Commerce-Versender. Und selbstverständlich ist die Zerstörung von Waren, auf die Gesamtzahl der Retouren gerechnet, nicht die Regel, sondern die Ausnahme – das letzte wirtschaftlich sinnvolle Mittel eben, wenn Aufbereitung, Reparatur oder auch Spende an gemeinnützige Projekte sich nicht lohnen. Amazon beispielsweise gibt sich viel Mühe, den Anteil an „Destroy“-Waren gering zu halten, wie Mark Steier vorgerechnet hat: Geringwertige Waren werden ersetzt, ohne dass der Kunde sie zurücksenden muss. Aufbereitete höherwertige Rücksendungen werden als Warehouse-Deals angeboten oder an Restpostenaufkäufer übergeben. Große Mengen an Retouren spendet Amazon an Innatura, eine Vermittlungsplattform für Spenden an gemeinnützige Organisation. Vielleicht ein Prozent der gesamten Retouren landet tatsächlich auf den Destroy-Paletten, schätzt Mark.

Bei anderen großen Online-Händlern dürfte die Quote ähnlich aussehen – oder deutlich schlechter: „Im uns bekannten Markt für Konsumgüter inklusive Textilien, Lebensmitteln und Werkzeug handelt Amazon unserer Einschätzung nach absolut vorbildlich. Die Rückführung und Verwertung von Retouren wird im höchsten Maß professionell organisiert und vor allem sehr offen und ohne Behinderung der Zweitmärkte umgesetzt“, sagte Stefan Grimm, Geschäftsführer von Restposten.de kürzlich im Interview mit Internetworld.de. „Ganz im Gegensatz zu anderen Marktteilnehmern und Marken im Bereich Textil & Fashion, Lebensmitteln oder Werkzeug. Hier gibt es häufig weder Prozesse noch überhaupt Bestrebungen, Retouren und Überhänge aufzuarbeiten oder zu verwerten. Vielfach besteht der Plan einzig und alleine in der Entsorgung der Ware beziehungsweise der Verschrottung, um die Marktpreise stabil zu halten.“

Der Fehler liegt im System

Statt also mal wieder Amazon an den Pranger zu stellen (dafür gibt es sicher lohnendere Sujets), sollte die Frage besser lauten: Wie kann es überhaupt sein, dass es wirtschaftlich sinnvoller ist, funktionsfähige Neuware zu vernichten, statt sie in irgendeiner Form wiederzuverwenden? Der Frontal21-Bericht reißt diese Frage durchaus an, indem er in einer Beispielsrechnung darauf hinweist, dass ein Unternehmen, das Shampoo-Flaschen im Wert von 100.000 Euro an eine gemeinnützige Organisation wie Innatura spendet, für diese Spende Umsatzsteuer in Höhe von 19.000 Euro entrichten muss – während die Entsorgung der Waren nur 5.000 Euro kostet.

Doch dann verbringt der Beitrag seine restliche Spielzeit damit, Unternehmen, die diese Rechnung aufmachen, für ihr kaltes Kalkül zu schelten – statt die interviewten Politiker zu fragen, warum die Gesetze so sind, wie sie sind. Oder die deutschen Verbraucherschutz-Verbände, ob die europaweit Verbraucher-freundlichste Gesetzgebung zum Online-Handel nicht vielleicht in direktem Zusammenhang mit den europaweit höchsten Rücksendequoten steht.

Schließlich könnte man gegen die Wegwerfgesellschaft, die Frontal21 in seinem Amazon-Bashing-Bericht so plakativ darstellt, ja durchaus gesetzlich vorgehen. „Wenn die Politik aktiv werden will, dann sollten schnellstens Regelungen zur Reparaturfreundlichkeit von Verbraucherprodukten europäisch auf den Weg gebracht werden. Die Austauschbarkeit von Akkus und ein Zweitverwertungsgebot oder eine Verwertungsquote von Retouren müsste europäisch fixiert werden“, schlägt beispielsweise Stefan Grimm vor.

Eine andere Möglichkeit, um zu einer nachhaltigeren Umgangsweise zu gelangen, wäre eine weltweite Reform der Betriebswirtschaft, meint die t3n: „Würden politische Kräfte die Variable der Umweltkosten zwingend in die Produktionskalkulation einfügen, würde es rentabler, Produkte zu reparieren und zu aktualisieren.“

Und so gesehen ist der neue Amazon-Aufreger vielleicht doch ein Skandal – und zwar ein gesamtgesellschaftlicher, der zu unmündige Verbraucher und wenig nachhaltige Umweltpolitik genauso einschließt wie gewinnorientiert arbeitende Unternehmen. Allein von Amazon mehr Umwelt- und Sozialbewusstsein einzufordern, greift da um Längen zu kurz.

Bildquelle: damrong @ bigstockphoto

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