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Blase oder ‚real life‘

iBusiness zitiert heute Paulus Neef: "Web 2.0 ist eine Blase voller Dummheit und Gier". Und hält gleichzeitig im eigenen Kommentar dagegen: "Kein Bubble 2.0".

Ist dieser Disput einen Artikel wert? Langsam häufen sich auch hier bei uns die Web 2.0-Artikel und dies, obwohl ich ja jemand bin, der diesen Ball(on) eigentlich eher flach halten möchte. Ich halte tatsächlich viel von dem Gerede um Web 2.0 für heiße Luft, produziert von Marketingabteilungen und Agenturen, um ihre eigenen Ballone höher fliegen zu lassen.

Allerdings: Dass das ‚Phänomen‘ – oder besser die Entwicklung ‚Web 2.0‘ existiert, würde ich nie verleugnen. Es ist schlicht die Evolution des menschlichen Verhaltens, die Adaption von Technik. Und es ist längst in das reale Leben geschwappt.

Seit das Internet richtungslos ist, weil es in allen Richtungen funktioniert, finden die Menschen mehr und mehr Gefallen an der Möglichkeit unmittelbaren Mitgestaltens – genannt Web 2.0. Und seit sie im Internet mitgestalten können, reißen sie auch die Hemmnisse dazu im realen Leben ein. Zwei Beispiele:

Markenführung ‚as usual‘ muss die Hölle sein in Tagen des Web 2.0. Denn die klassische Markenführung basiert auf einem extremen Informationsmonopol des Markenunternehmens. Coca Cola definiert die genaue Flaschenform, Schriftzug, sogar die exakten Farbnuancen – von den Werbeclaims etc. ganz zu schweigen. So definierte man Marken und führte sie, indem alle Informationen zentral gelenkt wurden. Heute tauchen im Web ständig ‚Werbevideos‘ oder ganze Werbewebseiten für (oder gegen) Produkte auf, die von "nichtautorisierten Hinz und Kunz" gestaltet werden. Infomonopol ade.

Real-life-Beispiel 1
Soviel zu den Alpträumen von Markenverantwortlichen – aber es kommt noch ’schlimmer‘ (bzw. besser – je nach Blickwinkel). Gucci durfte sich vor kurzem über eine wunderbare doppelseitige Hochglanzanzeige in der Schweizer Sonntagszeitung (und die Rechnung dafür) freuen. Geschaltet hatte die Anzeige ein Mann mit dem Alias ‚Watson‘, der sich selbst in einschlägig lasziver Pose fotografierte, das Gucci-Logo samt Duftwasser-Fläschchen hinzufügte und die Doppelseite auf so geschickte Art buchte, dass die Zeitung keinen Verdacht schöpfte.

Leider freute man sich bei Gucci überhaupt nicht, sondern lässt den ‚Täter‘ nun von der Justiz jagen – ‚User generated Content‘ passt eben nicht in die Markenreinheits-Denke. Eigentlich unverständlich, denn ‚Watson‘ hat Gucci kurzfristig eine enorme Publizität geschenkt. Und dies mit einer Anzeige die nun wirklich wunderbar in das Markenkonzept passt, so dass der Betrug ohne den Rummel niemandem wirklich aufgefallen wäre. Schade eigentlich: wirklich interessant wäre es doch gewesen, wenn auf dem Foto (hier auf dem ‚Fischmarkt‘) kein knackiger Latinotyp, sondern ein Asiate oder ein Indio abgebildet gewesen wäre. Oder?

Foto: Wikipedia

Real-life-Beispiel 2
Mein zweites ‚Real-life-Beispiel‘ kommt aus Schweden und hat nicht mit Möbeln, sondern mit Kunst zu tun. Oder mit Schrott. Oder mit verkehrsgefährdendem Eingriff in die Gestaltung öffentlicher Bereich. Je nach Blickwinkel. Es geht um "Rondell-Hunde". Diese Hunde sind in Schweden mittlerweile so beliebt und haben sich dermaßen verbreitet, dass sie es sogar bis ins ZDF geschafft haben.

Angefangen hatte es mit einem Kreisverkehr in Linköping (Östergötland). Eine lokale Künstlerin namens Stina Opitz hatte diesen mit einer (Beton-)Skulptur versehen, die u.a. auch einen Hund darstellte. Das Kunstwerk wurde jedoch von Vandalen beschädigt, wobei der Beton-Hund seinen Kopf verlor. Bevor die Künstlerin dazu kam, eine stabilere Version aufzustellen, platzierte ein Unbekannter über Nacht seine Version eines Hunde-Kunstwerkes: Ein aus rohen Holzbrettern und -kisten zusammengehauenes hellblaues – hmm… ‚Ding‘ – mit Schlappohren und aufgemalten Wolken.

Als Medien von dem ‚zugelaufenen‘ Heimwerker-Kunstwerk berichteten inspirierten sie eine Welle von Nachahmern, die weitere Verkehrsrondelle verzierten. Zunächst bauten die Verkehrswachten die ‚wilden Hunde‘ mit Hinweis darauf ab, diese gefährdeten den Verkehr durch Ablenkung der Fahrer. Das aber heizte das Phänomen erst so richtig an – oft über Nacht wurden entfernte Hunde durch neue Geschöpfe anonymer Hobbykünstler ersetzt. Mittlerweile tummeln sich auf immer mehr Verkehrsinseln im ganzen Land selbstgemachte Hundeskulpturen – echter ‚User generated Content‘ also. Dem Herr zu werden, haben auch die Verkehrsschützer mittlerweile aufgegeben…

Fazit – oder "was uns die Künstlerin sagen will":
Web 2.0 existiert – es ist die Art, wie Menschen die technischen Möglichkeiten des Internet zum unmittelbaren Mitgestalten nutzen. Diese Unmittelbarkeit des Mitredens und Mitgestaltens schwappt auch in das echte ("erste") Leben über. Es führt dazu, dass sich Zielgruppen nicht mehr alles sagen lassen, sondern sich unterhalten.

Dass dies Einfluss auf Werbung und Vertrieb (und Markenführung und vielleicht auch (lokale) Politik) hat, ist logisch, aber meiner Meinung nach keine bahnbrechende Sache, sondern eine normale Entwicklung. Es ist eh immer gut, seine Kunden ernst zu nehmen und auch einmal zuhören zu können. Dass Businesspläne auf ‚User generated Content‘ basieren (und manche auch vielleicht funktionieren) können, ist schön und bereichernd. Doch es wird sicherlich nicht alles auf Dauer (nur damit) funktionieren..

Dass Web 2.0 aber eine Revolution darstellt und die gesamte globale Wirtschaft (kurz- oder mittelfristig) anders funktionieren wird/muss, halte ich für Quatsch. Dazu sind die Marktmächte in viel zu wenigen und zu starken Händen. (Schade eigentlich ;-))

Herzlich aus Hürth
Nicola Straub

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